Beratungssyndrom: Wenn sich Beratungen in Lean Management gegen Innovation wehren

„Lean muss in eine Richtung angehoben werden, die zur westlichen Kultur, Denk-, Handlung und Gefühlswelt passt.“ So äußerte sich Prof. Dr. Alexander Tsigkas einst in einem Interview. Seine Aussage sorgte für Aufruhr. Wir haben nachgefragt.

Prof. Alexander Tsigkas bringt mehr als 20 Jahre Erfahrung im Bereich Lean mit. “Lean kam um das Jahr 2000 zu uns nach Europa, einschließlich Griechenland. Seither begleitet mich das Thema.” Heute ist er pensionierter Professor an der Universität von Ioannina in Griechenland und lehrt junge Studierende in dieser Philosophie. “Viele meiner ehemaligen Student:innen profilieren sich jetzt in Lean.”
 
In seiner Laufbahn hat er nicht nur wertvolle Erfahrungen gesammelt, sondern auch nuancierte Einblicke in die Welt von Lean erhalten. Eine Welt, die nach Ansicht von Herrn Tsigkas von vielen zu kleinkariert aufgefasst wird. Er möchte die Art und Weise ändern, wie wir Lean verstehen und anwenden. Denn das traditionelle Konzept davon eigne sich nicht für Europa.

PERSONENVORSTELLUNG

Alexander Tsigkas ist pensionierter Professor aus dem Bereich Logistik und Produktionsmanagement. Er ist Lean-Experte mit mehr als 20 Jahren Erfahrung auf dem Gebiet. Entsprechend publizierte er zunächst das Buch: The Modern Lean Enterprise, From Mass Customisation to Personalisation. Darauf folgte dann: The Performative Enterprise, Ideas and Case Studies on Moving Beyond the Quality Paradigm. Seit seiner Pensionierung beschäftigt er sich intensiv mit der Digitalisierung in Lean Unternehmungen, speziell mit der Frage: Wie Lean ist Digital? Er studiert und forscht in der Mittelwelt zwischen Lean und Digitalisierung.

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Lean ist nicht universell

“Lean ist universell”, behaupten manche. Der Professor widerspricht. Tatsächlich entstamme der Begriff Lean dem amerikanischen Sprachgebrauch, obwohl er auf der Philosophie von Toyota basiert. “Wenn man sich die japanische Denkweise anschaut, stellt man fest, dass Lean für sie keine Methode ist, wie für uns. Für sie ist es ein Prinzip.
 
“Die Amerikaner haben die Beschäftigten bei Toyota studiert und beschlossen, man müsse so arbeiten wie sie. Sie sahen Strukturen, die sie anschließend unter dem Begriff Lean einordneten, und verbreiteten es im Westen.” Das sei eine Methode – Die Art und Weise, wie sie die japanische Kultur praktisch übersetzten und sie auf ein anderes System, eine andere Denkweise anwandten.

Der Westen ist auf das Individuum ausgerichtet

“Als Erstes müssen wir lernen, unterschiedliche Kulturen zu verstehen. Man muss sich von dem distanzieren, was einem eingetrichtert wurde, und seine eigenen Nachforschungen anstellen. Auf diese Weise habe ich viel gelernt. In Japan zum Beispiel haben die Arbeitnehmenden eine viel engere Beziehung zu ihren Unternehmen”.
 
Herr Tsigkas erklärt, dass dies hauptsächlich daran liege, dass Arbeitnehmer:innen in Japan seltener und nicht so schnell gekündigt werde wie in Europa. Dementsprechend besteht bei ihnen auch keine Furcht vor dem Arbeitgeber. “Dass jemand von einem Tag auf den anderen entlassen wird, gibt es dort nicht. Hier hingegen wird es regelrecht als Teil des Arbeitslebens hingenommen. Das fördert eine ausgeprägte Eigenständigkeit”, fügt er hinzu.

Gruppenarbeit fällt den Menschen im Westen schwer

Die Menschen im Westen seien kulturell durch Individualismus geprägt. Gruppenarbeit falle ihnen dagegen schwerer. “Damit will ich nicht sagen, dass Europäer nicht zusammenarbeiten können. Vielmehr wird ihnen nicht geholfen, in diese Richtung zu denken. Der Erfolg im Westen ist auf das Individuum ausgerichtet.” Er sagt, dass den Menschen im Westen erst einmal bewusst gemacht werden muss, dass ihr Erfolg aus einer Kette von Beteiligten erwächst.
 
“Diese Aufteilung in Tausende Abteilungen, die keinen Kontakt zueinander haben, erschwert das jedoch. Es entstand die Vorstellung, dass Kollegen wie Kunden behandelt werden sollten. Das jeder auf sich selbst gestellt ist. Die Kollegialität und Teamarbeit ist verloren gegangen.” Hier setzt der erste Schritt an, sagt er. Man muss Menschen zuerst die richtigen Werkzeuge und Kapazitäten geben, damit sie nicht nur an sich selbst denken. Um sich der japanischen Arbeitsweise anzunähern. Um “Lean”, wie es dort existiert, überhaupt erst richtig zu leben.

Beratungsunternehmen wehren sich gegen Innovation in Lean

“Ich weiß, dass viele Leute sagen, wir bräuchten kein europäisch orientiertes Verständnis von Lean. Aber nach 20 Jahren Lean-Geschichte in Europa könnte man durchaus etwas Neues ausprobieren, das für uns besser funktioniert.” Er vermutet, dass diejenigen, die eine westliche Auslegung von Lean befürworten, tatsächliche Anwender der Philosophie sind. Diejenigen, die sich dagegen wehren, seien wahrscheinlich Beratungsunternehmen.
 
“Ich nenne es das Beratungssyndrom – die Berater haben lange Zeit etwas getan, was sie gut kennen, und jetzt sind sie nicht flexibel genug, um etwas daran zu ändern. Wozu auch, sie machen es ja schon seit 20 Jahren”, schmunzelt Herr Tsigkas, der selbst jahrelang als Berater gearbeitet hat. Die jüngeren Generationen hingegen haben die Zukunft noch vor sich und die Zeit und Bereitschaft, neue Dinge zu lernen und auszuprobieren.

Komplementarität im Westen: "Nicht nur das Schlechte abschaffen, sondern auch das Gute hinzufügen"

“Wir unterscheiden uns schlichtweg von den japanischen Menschen. Wir sind es gewohnt, mit Methoden zu arbeiten. Wir sind nicht daran gewöhnt, jeden Tag etwas zu ändern. Wir wollen und brauchen mehr Zeit für den Wandel.” Die ständige Suche nach Fehlern, die vermieden werden müssen, sei ebenso nachteilig, betonte er. Man sollte nicht nur einen Brand zum Löschen finden. Man muss lernen, auch das Positive zu entdecken.
 
“Wir brauchen diese Komplementarität im Westen. Nicht nur das Schlechte abschaffen, sondern mehr Gutes hinzufügen.” Der Begriff Komplementarität ist hier entscheidend. Es sei der Lösungsansatz für Europa: “Man entfernt Verschwendung, fügt Positives hinzu. So schafft man Wert.” Diese Idee basiert auf der Komplementaritätstheorie zweier Professoren. Eine moderne Konstruktion, die zur Denkweise der Europäer passe.

Wirtschaftswissenschaft ist vor 100 Jahren stehen geblieben

Was aber zeichnet unsere Fertigung gegenüber der japanischen so aus, dass wir einen neuen Denkansatz benötigen? In der Automobilindustrie etwa sei die Massen-, aber auf individuellen Bedarf basierte Produktion (Mass Customization) ein entscheidender Punkt. “Sie ist in Europa stark präsent. Im entsprechenden Markt in Japan hingegen wird die Individualität nicht auf das Individuum zugeschnitten. Sondern auf eine Gesamtindividualität, die dann als Standardmassenprodukt hergestellt wird. Auf diese Weise können die Japaner ihre Fertigung konsolidieren und Produktionskosten massiv senken.”
 
Außerdem haben sie nur begrenzten Platz zum Produzieren. -“Anders als zum Beispiel in den USA produzieren sie so, wie es unter ihren bestehenden Bedingungen machbar ist. Außerdem gehen sie mit den Veränderungen der Welt mit.” In Europa hingegen stehe die Produktion immer noch seit Jahren unverändert auf der Agenda von Professoren und Beratern, sagt er. “Wirtschaftswissenschaft ist da stehen geblieben, wo sie schon vor 100 Jahren war. Als ob wir noch in Zeiten der Massenproduktion operieren.”
 
Angesichts der globalen Veränderungen und der Fortschritte bei der Digitalisierung bedauert er es umso mehr, dass die Technologie in der westlichen oder europäischen Wirtschaft noch längst nicht so stark Fuß gefasst hat. “Altmodisch ist das”, schildert Herr Tsigkas fast schon entrüstet. “Wenn wir die Digitalisierung in unseren Breitengraden einführen wollen, dann nicht im Rahmen des Lean-Konzepts, so wie wir es kennen. Das würde nämlich bedeuten, einen Zustand zu automatisieren, bevor er optimiert wird. Und wenn wir einen schlechten Zustand digitalisieren – bleibt er weiterhin schlecht! Oder wird noch schlimmer.” Professor Tsigkas empfiehlt daher, sich zunächst in ein neues Mindset zu versetzen. Danach, meint er, könne man digitalisieren.

Lean und Agile als erster Schritt zur ‘westlichen’ Arbeitsweise

Schlussendlich kommt er immer wieder zu demselben Fazit: “Lean muss angepasst oder modernisiert werden. So wie jede andere Strategie oder Philosophie im Leben.” Lean kann schlank machen. Aber das allein reiche heutzutage nicht mehr aus. Mehr Flexibilität sei gefragt. “Wenn etwas mal dringend geändert werden muss, ist Lean nicht flexibel genug. Aber manchmal muss man in der Lage sein, eine solche Dynamik zu zeigen.”
 
Hier kommt das Eintauchen in die agile Produktion ins Spiel. “Wenn man jetzt Lean mit Agile kombiniert, ist das ein erster Schritt zu einer westlich orientierten Lean-Arbeitsweise. Ein Schritt in eine westlich orientierte Lean-Arbeitsweise. Daran wird jetzt in vielen Unternehmen weltweit gefeilt.” Immer mehr Unternehmen erkennen die Dringlichkeit, Produkte kundenspezifisch zu gestalten. Die Verknüpfung von Lean mit Agile sei dafür ideal. Zumal sie flexibel genug für solche Anpassungen ist. “Ich glaube, dass wir in diesem Bereich viel Bewegung sehen werden. Es ist nur wichtig, zu verstehen, dass nur die Kombination funktioniert. Das bedeutet, die Unternehmen sollen nicht auf Agil allein umsteigen. Die richtige Mischung macht es.”
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Herausgeber ist das futureorg Institut – Forschung und Kommunikation für KMU mit Sitz in Dortmund/NRW.

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