Erlauben Sie mir die Zuspitzung: Sind Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland unethisch?
Nein, das sage ich nicht. Es geht auch nicht darum, einer Gruppe ethisches oder unethisches Verhalten zu unterstellen. Es geht um etwas anderes: Unser soziales, ökologisches und ökonomisches Leben steht gerade auf der Kippe. Wir müssen die Klimakrise abwenden. Unsere Gesellschaft ist polarisiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wir müssen den Zusammenhalt der Menschen stärken. Wie nötig dies ist, zeigt die Corona-Krise. Die Frage, welche Welt wir unseren Kindern hinterlassen möchten, ist mittlerweile unüberhörbar geworden.
Aber was haben Unternehmen damit zu tun?
Unternehmen sind Teil einer Lösung.
Aber Unternehmen können nicht mit der Wertschöpfung aufhören. Oder das Wachstumsparadigma aufgeben.
Müssen sie auch nicht. Es reicht, wenn wir uns wieder an Adam Smith erinnern. Ich möchte aus seinem ersten Werk “The Theory of Moral Sentiments” zitieren: “Wie selbstsüchtig der Mensch auch sein mag, es gibt offensichtlich bestimmte Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu veranlassen, sich für das Los anderer zu interessieren und es für ihn notwendig machen, für andere glücklich zu sein.”
Der Gottvater der politischen Ökonomie, der Theoretiker des freien Markts, der auf einem System des Egoismus beruht, war ein Moralphilosoph. In Glasgow hielt er Vorlesungen über Ethik und Rechtsprechung, bevor er den wirtschaftlichen Geist der modernen Welt begründete. Wenn wir uns auf den ursprünglichen Gedanken ethischen Handelns in der Wirtschaft besinnen, ist es völlig logisch, dass Unternehmen Teil der Lösung sind.
Ich möchte nachhaken: Unternehmen, die Autos produzieren, können nicht aufhören, Autos zu produzieren. Dies gilt für Stahlunternehmen und Textilhersteller ebenso.
Kein Unternehmen muss etwas aufgeben. Das Problem ist aber, dass viele Top-Manager Ethik und Gewinn als unvereinbare, diametral gegenüberliegende Extrempunkte eines Kontinuums sehen. Gewinn wird jedoch in Geldeinheiten gemessen, Ethik in Nutzen. Es dürfte somit eigentlich klar sein, dass diese beiden Aspekte unternehmerischen Handels nicht auf dem gleichen Kontinuum angesiedelt sein können. Aber beide Dimensionen beeinflussen sich gegenseitig. Einer Studie zufolge, geben 56 Prozent der US-Verbraucher an, nicht mehr Unternehmen einzukaufen, die sie nicht für ethisch halten. Mehr noch: Mehr als ein Drittel der Verbraucher kaufen nicht mehr bei Marken, die sie als unethisch empfinden, selbst wenn es keinen Ersatz gibt. Die Führung von Unternehmen müssen daher ihren Blickwinkel verändern.
Und dieser Blickwinkel wäre?
Unternehmensethisches Verhalten ist keine Abkehr vom Gewinnprinzip. Vielmehr muss Unternehmensethik die Geschäftsgrundlage allen unternehmerischen Handelns sein. Es ist nicht alles unmoralisch, was unternehmerischen Erfolg bringt. Es ist aber gleichzeitig auch nicht alles unwirtschaftlich, was ethisch verantwortbar ist.
Was haben Unternehmen davon, wenn sie diesen Blickwinkel einnehmen?
Dann findet die eigentliche Magie statt: Was ethisch ist, hat häufig sogar eine exponentielle Wirkung auf den unternehmerischen Erfolg. Letzteres ist genau die zukunftsgerichtete Aufgabe moderner Unternehmensführung. Planung, Durchführung und Kontrolle einer innovativen und unternehmerischen Synthese von Gewinn und Ethik.
Gibt es Beispiel für diesen positiven Zusammenhang?
Der Getränkehersteller Pepsi gab jüngst bekannt, dass es seit der Einführung von Initiativen in den Bereichen Wasser, Energie, Abfallvermeidung und umweltfreundliche Verpackungen im Jahr 2010 mehr als 375 Millionen US-Dollar eingespart hat. Anfang 2016 meldete die Hotelkette Hilton Worldwide, dass es durch seine Strategien zur Energie-, Abfall- und Wasserreduzierung seit 2009 geschätzte 550 Millionen US-Dollar einsparen konnte.
Ein weiteres Beispiel ist das Chemie- und Pharmaunternehmen LONZA. Es hat an sich den Anspruch formuliert, sich an Grundwerten wie Integrität, Integration, Innovation und Initiative zu orientieren. Es gehört zu den 135 ethischsten Unternehmen, die vom Ethisphere Institute im Jahr 2021 ausgewählt wurden. LONZA erzielte 2020 einen Umsatz von CHF 4.5 Mrd. und ein CORE-EBITDA von 1,4 Milliarden Schweizer-Franken.
Eindrucksvoll. Aber am Ende geht doch um Profit.
Ethik und Gewinn sind nicht zwei Extrema auf einem Kontinuum. Beide sind vielmehr zwei Erfolgsgrößen auf unterschiedlichen Niveaus. Das Verhältnis zwischen Ethik und Gewinn ist somit vertikal, nicht horizontal zu denken. Zukünftig müssen Unternehmer und Unternehmerinnen also beim Aufbau neuer strategischer Erfolgspositionen durchgängig die ethischen Grundlagen der zu definierenden Geschäftsstrategie mitbedenken.
Das heißt konkret?
Konkret bedeutet dies, dass sie nicht nur ihrer rechtlichen und ökonomischen, sondern auch ihrer ethischen Verantwortung gerecht werden müssen. Das ist nämlich wichtig. Unternehmen können sich aufgrund der erhöhten Sensibilität für ethisches Handeln nicht mehr leisten, Gesellschafts- und Umweltrisiken zu externalisieren, also auf die Gemeinschaft abzuwälzen. Bereits bei der Finanzkrise 2008 hat die Öffentlichkeit mit Bauchschmerzen wahrgenommen, dass die Verluste der Banken vergemeinschaftet wurde. Ebenso empfindlich reagierte sie bei der Corona-Krise auf die Milliardenhilfe für Fluggesellschaften und Autobauer. Ethisch unreflektierte Praktiken erhöhen das Unternehmensrisiko.
Trotzdem benötigen Unternehmen Steuerungsdaten aus dem betrieblichen Controlling, um die Geschicke des Unternehmens auf dem Markt zu lenken. Scheitert ethisches Verhalten am Ende nicht genau daran?
Die Synthetisierung von Ethik und Gewinn ist kein esoterischer Selbstzweck. Insofern kann die Unternehmensführung bei allen unternehmerischen Kernentscheidungen ethische Metriken, Ziele und Maßnahmen berücksichtigen. Sie sind Voraussetzung, um ein verantwortungsvolles Wachstum zu ermöglichen, positive Zukünfte zu schaffen und die unternehmensseitige Daseinsberechtigung an den Märkten aber auch in der Öffentlichkeit zu gewährleisten.
Gibt es denn konkrete Regularien?
Ja, die gibt es. ISO 26000, ISO 9001, ISO 19600, Deutscher Nachhaltigkeits- und Corporate-Governance-Kodex, UN Global Compact, WMS ZfW und Deutscher Ethik Index (DEX) sind nur wenige Beispiele für den regulativen Dünger in der Petrischale unternehmensethischen Verhaltens. 50 Prozent des 807 Milliarden Euro umfassenden NextGenerationEU–Konjunkturprogramms werden unter ethischen Aspekten investiert. Seit 2017 sind börsennotierte Unternehmen mit Sitz innerhalb der EU und mit mehr als 500 Beschäftigten dazu verpflichtet, Informationen zu ihrem Ethikmanagement zu veröffentlichen. Ab 2023 werden durch das Lieferkettengesetz Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitenden dazu verpflichtet, Maßnahmen zur Sicherstellung von grundlegenden Menschenrechtsstandards zu gewährleisten, sowohl im eigenen Unternehmen als auch bei Lieferanten. März 2021 ist die Offenlegungsverordnung in Europa in Kraft getreten. Betroffen sind insbesondere Finanzdienstleister und Versicherungen. Ziel der Verordnung ist es, Finanzprodukte ethisch zu reflektieren und deren Transparenz für Anleger zu erhöhen. Und so geht es weiter und weiter…
Was ist der Grund, dass Regierungen Unternehmen dahin gehend unter Druck setzen möchten?
Die Regierungen haben erkannt, dass die wirtschaftsbedingten globalen Kollateralschäden staatlicherseits im Nachhinein nicht mehr durch Kompensationsprogramme relativiert werden können. Dementsprechend steigt die Zahl an Regelungen und Normen exponentiell, die unternehmensethisches Verhalten einfordern, steuern und reglementieren.
Auch wenn der Gesetzgeber von Unternehmen einfordert, verantwortungsvoll zu handeln, benötigen Unternehmen strategische Kennzahlensysteme, um handlungsfähig bleiben zu können. Daher möchte ich auf die ethischen Metriken zurückkommen. Haben Sie dazu ein Beispiel?
Unternehmen sind jahrzehntelang monofokussiert darauf getrimmt worden, die Gesamtrendite für Anteilseigner und Aktionäre zu maximieren. Der Fokus beschränkte sich also auf den Total Shareholder Return, kurz TSR. Dieser Ansatz muss nun um den Total Ethical Impact, kurz TEI, erweitert werden.
Können Sie den Total Ethical Impact kurz erläutern?
Der TEI ist der ethische Gesamtnutzen für die Gemeinschaft, der sich aus Produkten, Dienstleistungen, Betrieben und Aktivitäten eines Unternehmens ergibt. Der Gesamtnutzen kann dabei sich auf Umwelt, Gesellschaft, Investoren, Kunden, Mitarbeiter, Unternehmen, Manager und Unternehmer beziehen.
Kunden kann ich noch verstehen, aber Investoren, Manager, Unternehmen und Unternehmer?
Es gibt den zuvor beschriebenen Wertewandel nicht nur aufseiten der Kunden und Kundinnen. Bei immer mehr Investoren und Investorinnen, sogar ganze Unternehmen hat dieser Wandel Einfluss, hin zu mehr Nachhaltigkeit, Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit. Dieser Wandel hört im Übrigen bei den Unternehmerinnen und Unternehmern nicht auf. Aus meinen vielfältigen Gespräche weiß ich, dass Managerinnen und Manager sich durchaus die Frage stellen, ob die Kinder ihrer Belegschaft bei ihnen arbeiten wollen. Manche stellen sich diese Frage bei ihren eigenen Kindern, ob sie ihre Entscheidungen gutheißen würden. Diese Entwicklungen bedingen, dass bei der Festlegung von Strategien, Maßnahmen und Geschäftsmodellen nun zusätzlich der Gesamtnutzen ethischen Handelns berücksichtigt wird.
Wie soll dies nun konkret als Kennzahl funktionieren?
Die ethisch reflektierten Maßnahmen eines Unternehmens können anhand von Kriterien mithilfe einer standardisierten Skala bewertet und zu einem TEI-Nutzenwert aggregiert werden. Werden Total Shareholder Return (Red.: TSR) und Total Ethical Impact (Red.: TEI) gleichzeitig und gleichwertig verfolgt, dann verbessert dieses Vorgehen langfristig den TSR. Warum? Weil er das Risiko negativer Ereignisse und Effekte deutlich reduziert und neue Wachstumsmöglichkeiten eröffnet. Insofern bedarf es eines Next Level Total Shareholder Return, den so genannten NTSR. Er bildet diese multiplikative Verknüpfung ab und lenkt als Steuerungskalkül unternehmerisches Handeln.